VHR Band 178: Die Geliebte des Hexenjägers von Hal W. Leon
Es war wenige Minuten nach Mitternacht, als ein schwarzer Mercedes den Stadtkern verließ und über eine breite Ausfallstrasse auf einen Vorort zuhielt, der fast ausschließlich aus Villen bestand. Um diese Zeit herrschte nur wenig Verkehr. Dennoch dachte der Fahrer des Taxis nicht daran, das Tempo zu erhöhen. Die Sicht war einfach zu schlecht und die regennasse Fahrbahn einfach zu glatt. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren. Suchend tasteten die Scheinwerfer durch die breiige Finsternis, ohne das Blickfeld wesentlich zu erweitern. Wasserfontänen prasselten dumpf gegen das Bodenverdeck des Mercedes, wenn er durch zahlreiche Pfützen fuhr. Es regnete nun schon den vierten Tag. Und es sah keineswegs nach einer baldigen Wetterbesserung aus. Seit zwei Stunden goss es sogar in Strömen. Der Taxilenker äußerte sich dazu, doch sein Fahrgast reagierte nicht darauf und blickte starr geradeaus. Oswald Furtner saß regungslos neben dem Fahrer. Es war ein stattlicher Mann Anfang Vierzig. Antiquitätenhändler von Beruf. Er wohnte draußen im Villenviertel. Das miserable Wetter war ihm offenbar gleichgültig. Denn es war ihm nicht nach Unterhaltung zumute denn auch die weiteren Worte des Fahrers fanden kaum ein Echo. Furtner antwortete entweder nur einsilbig oder überhaupt nicht, während er mit einem mürrischen Gesichtsausdruck in den strömenden Regen hinausstarrte, der unablässig gegen die Windschutzscheibe klatschte. So gab es der Fahrer bald auf, mit Oswald Furtner in ein Gespräch zu kommen, und konzentrierte sich auf die Fahrbahn und den spärlichen Gegenverkehr. Wenige Minuten später tauchte das Villenviertel auf. Der Fahrer bog nach rechts in eine schmale Seitenstraße ein und hielt nach kurzer Fahrt vor einem schmiedeeisernen Tor, an dem ein Schild mit einer Nummer befestigt war.
Verfasst von Hal W. Leon (= Helmut Werner)
Titelbild von Carolus Adrianus Maria Thole
Erschienen am 06.07.1976
Ein Nachdruck erfolgte als Dämonen-Land Bd. 36
Geschrieben von van Aalst am 08.06.2024 um 15:16:
Ein Top Roman.
Geschrieben von Eliot Spencer (retd) am 16.07.2025 um 21:34:
Ein paar Worte zum Inhalt:
Antiquitätenhändler Oswald Furtner leidet plötzlich unter Albträumen. Darum trinkt er mehr, als ihm gut tut. Seine Frau Agnes macht ihm die Hölle heiß. Als Furtner eines Abends wieder zu spät nach Hause kommt, hat Agnes ihn ausgesperrt. Also schläft er notgedrungen in der antiken Kutsche, die er gerade erwarb. Plötzlich setzt sich das Gefährt in Bewegung und rast los. Furtner ist ein hilfloser Passagier. Scheinbar fährt ihn die Kutsche in die Vergangenheit. Als sie endlich anhält, steigt Furtner aus und ist eine andere Person. Er ist Isidor Sandhackl, der Hexenjäger, der nach dem Dreißigjährigen Krieg zusammen mit seinen sadistischen Helfern Sebastian Wirz und dem stummen Paul das Handwerk der Hexenjagd betreibt.
Als Furtner wieder erwacht, fehlen ihm mehrere Stunden. Die Erfahrung war so intensiv, dass er befürchtet, den Verstand zu verlieren. Seine Frau hat wenig Verständnis. Nachforschungen ergeben schnell, dass die antike Kutsche das Gefährt des Hexenjägers ist und das Sandhackl sein Urahn ist. Nach seiner grausamen Schreckensherrschaft, in der er Hunderte Unschuldige folterte und tötete, überführte man ihn selbst der Zauberei.
Furtner versucht alles, der Kutsche und dem offensichtlichen Fluch zu entkommen. Aber egal, was er auch anstellt, er landet immer wieder in der Vergangenheit, wird zu Sandhackl, verfolgt und foltert Unschuldige, die er für Hexen hält, und beschlagnahmt deren Vermögen für den Landesherrn. Da lernt er die berückend schöne Adelheid kennen, und die Liebe zieht in sein Leben ein. Adelheid erwärmt sein kaltes Herz. Sie wird die Geliebte des Hexenjägers...
Das Thema ist Hexenverfolgung, zur Abwechslung aber mehr wie ein historischer Roman gestrickt. Zwar folgt die Handlung dem üblichen Schema einer Hexenjagdgeschichte und liest sich manchmal wie der Roman zur Fernsehdoku, aber für 1976 sind die historischen Fakten sehr solide aufgearbeitet. Überraschend ist, dass der Autor den Grund für den Fluch, dem sein Protagonist in der Gegenwart zum Opfer fällt und der ihn in die Vergangenheit schickt, offen lässt. Schaurig ist das allemal, denn der Autor stellt die gewerbsmäßige Hexenjagd für ein Heft ziemlich realistisch und nüchtern dar und erläutert den abartigen Kreislauf von Denunziation, Folter, Tod und Enteignung.
Das ist alles atmosphärisch und mit einem guten Blick fürs Detail erzählt und konstruiert, da kann man darüber hinwegsehen, dass gerade die Charakterisierung des Hexenjägers an entscheidenden Stellen viel an Glaubwürdigkeit verliert. Auch wenn Liebe bekanntlich blind macht, so viel Dummheit ist schon strafbar :-)) Ein Roman aus der Zeit, in der der VHR noch überraschen konnte.