Band 9: Die Pest braucht keinen Paß
Ich bin kein junges Mädchen mehr, dachte Ella, während sie sich im Spiegel betrachtete, vor dem sie nackt stand. Mit Zweiunddreißig war sie eine voll erblühte Frau mit einem schönen, faltenlosen Gesicht, wunderbaren Brüsten, schmaler Taille und verlockend gerundeten Hüften. Sie rieb ihre langen sonnengebräunten Schenkel aneinander. Mit einem zufriedenen Lächeln nickte sie sich im Spiegel zu. Auch wenn sie mit Henry schon oft zusammengewesen war, so fürchtete sie nicht, ihn in der Hochzeitsnacht zu enttäuschen. Sie hielt nichts von romantisch-jungfräulichen Bräuten - bei ihr auch nicht möglich als geschiedener Frau und Witwe -, doch sie fühlte, daß diese erste Nacht ihrer zweiten Ehe mit Henry Moorfield etwas Besonderes werden sollte. Mit langsamen erotischen Bewegungen streifte sie sich das schwarze Spitzennegligé über und streckte gerade ihre Hand nach dem schwarzen Slip aus, als sie eine leise Stimme hörte. "Ella", wisperte es hinter ihr. "Ella!" Verärgert drehte sich Ella Moorfield um. Sie wollte Henry überraschen. Was fiel ihm ein, zu ihr ins Badezimmer zu kommen? Er hatte versprochen, auf sie im Schlafzimmer zu warten. Verwundert schüttelte sie den Kopf, daß ihre schwarzen Haare ins Gesicht fielen. Das Badezimmer war leer, sie mußte sich getäuscht haben. Sie lächelte über sich selbst. Wie hätte Henry auch das Badezimmer betreten sollen, wo sie doch die Tür abgeschlossen hatte. Erneut drehte sich die Frau zum Spiegel und griff nach der Haarbürste, als sie die Stimme wieder hörte.
Verfasst von M.R. Richards (= Richard Wunderer)
Titelbild von Van Vindt (= Olof Feindt)
Erschienen am 23.12.1974
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Nur der Mond schwamm immer noch leuchtend und wunderbar in den unermesslichen Weiten des funkelnden ukrainischen Himmels; ebenso majestätisch atmete die ungeheure Höhe, und die Nacht, die göttliche Nacht verglühte; ebenso schön lag die Erde im verzauberten Silberlicht.
Nikolaj Gogol: Die Mainacht oder Die Ertrunkene