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John-Sinclair-Forum ::: Gruselroman-Forum » Roman-Serien » John Sinclair » Kurzgeschichtenzyklus: Die Dunkle Mutter » Teil 5: Die Zeremonie des Blutes 1 Bewertungen - Durchschnitt: 5.00 1 Bewertungen - Durchschnitt: 5.00 1 Bewertungen - Durchschnitt: 5.00 1 Bewertungen - Durchschnitt: 5.00 1 Bewertungen - Durchschnitt: 5.00
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24.04.2019 07:08
Teil 5: Die Zeremonie des Blutes
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Die Zeremonie des Blutes

Der Anruf von Father Ignatius erreichte mich während der Mittagspause. Suko und ich wollten gerade bei einem seiner zahlreichen Vettern einkehren, als meine Jacke zu vibrieren anfing. Ich verzog das Gesicht und verdrehte dazu noch die Augen.

„Na toll“, sagte ich Suko. „Noch nichts im Bauch und das Telefon klingelt. Kann das Teil nicht mal warten, bis ich was gegessen hab?“ Suko grinste nur und betrat einstweilen das Schnellrestaurant seines Vetters.

Ich griff in meine Jackentasche und holte den Quälgeist hervor. Zu meiner Verwunderung wurde keine Nummer angezeigt und eigentlich hatte ich dann schon zweimal keine Lust ranzugehen. Ich schüttelte den Kopf und drückte schließlich aufs Display. „Sinclair“, meldete ich mich unwirsch. „Dem Herrn sei Dank, John. Du bist zu erreichen.“

Durch den Verkehrslärm hatte ich leider nicht verstehen können, wer am anderen Apparat war, und so gab ich zurück: „Ja, bin ich. Und auch ziemlich hungrig.“ Am Lachen erkannte ich schließlich Father Ignatius und musste ebenfalls lachen. „John, ich muss dich um einen Gefallen bitten“, fuhr Father Ignatius weniger gut gelaunt fort.

„Wir haben einen Anruf aus einer unserer Schwesterngemeinden bekommen. Sie ist angegriffen worden. Schwester Gloria, die Anruferin, erzählte uns, dass der kleine Orden übernommen worden sei. Die kleine Kapelle innerhalb dieser Gemeinde wurde entweiht. Es fiel mehrmals der Begriff der Dunklen Mutter, mit dem ich leider nichts anfangen konnte.“ „Dafür ich leider umso mehr“, unterbrach ich ihn. „Ich hatte schon mit ihr zu tun.“ Es blieb still in der Leitung. „Dann wirst du ja besser einschätzen können, wie eilig das Ganze ist. Wir bekommen keine Verbindung mehr zu dem Orden. Ich hätte zwar mehrere Agenten in der Gegend, aber ich fürchte, dass das doch eher ein Job für dich ist.“

„Da hast du wohl recht, Ignatius.“ Father Ignatius war mehr als nur ein Gottesmann. Er war der Chef der Geheimorganisation des Vatikans, der Weißen Macht. Um sich selbst immer wieder zu erden, wie er sich ausdrückte, goss er nach wie vor unsere Silberkugeln, die er uns regelmäßig schickte. Father Ignatius gab mir noch den Standort des Ordens durch, dann verabschiedete er sich, natürlich nicht ohne zu sagen, dass wir auf uns aufpassen sollen. Wie ein richtiger Vater eben.

Wie auf Kommando kam gerade Suko aus dem Schnellimbiss und hatte zwei große Schachteln mit lecker duftendem Essen dabei. Grinsend hielt er mir das Gericht entgegen, dazu noch verpackte Essstäbchen. Ich konnte zwar mittlerweile unfallfrei mit den Stäbchen essen, aber eine Gabel wäre mir in diesem Fall lieber gewesen. Wir setzten uns zum Essen ins Auto. Ich erklärte Suko, wer da angerufen hatte und brachte ihn auf den aktuellen Stand. So hungrig ich auch war, ich konnte das Essen angesichts des bevorstehenden Einsatzes ganz und gar nicht genießen, obwohl es echt köstlich war.

„Wie ist sie denn so?“, fragte Suko. „Wen meinst du?“, fragte ich zurück. „Na die Dunkle Mutter. Bis jetzt wissen wir nicht sehr viel von ihr. Nur, dass sie deinem Kreuz widerstehen kann. Silberkugeln wahrscheinlich auch. Ich frage mich, ob wir ihr mit meiner magischen Peitsche oder deinem Bumerang beikommen können.“

„Ich weiß es nicht, Suko“, seufzte ich. „Wir wissen, dass sie geboren wurde und mutmaßlich auch wo. Und dass es eine Waffe geben soll, die sie vernichten kann.“ „Das schließt jedoch nicht automatisch aus, dass wir sie nicht mit unseren Waffen vernichten können“, meinte Suko.

„Warum hätten mir sonst die Geister in der Gruft den Hinweis darauf geben sollen? Ich befürchte, dass wir diese eine spezielle Waffe benötigen. Aber wenn ich sie das nächste Mal treffe, werde ich sie fragen, ob sie mal kurz stillhalten kann, da ich mit der magischen Kreide einen Bannkreis um sie ziehen möchte, um im Anschluss einmal mit der Peitsche auf sie einzuschlagen und vielleicht den Bumerang auf sie zu werfen.“ „Ich nehme an, dass du deine Portion nicht aufgegessen hast, oder?“ „Was hat denn das damit zu tun?“ „Weil du nicht du bist, wenn du hungrig bist.“ „Blödmann!“ Suko lachte und auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Und wieder einmal mehr merkte ich, wie wichtig es war, einen so guten Freund wie Suko zu haben.

Wir mussten nach Maidenhead, in eine kleine Stadt ca. 26 Meilen westlich von London. Wir hatten zwar die genaue Anschrift bekommen, aber wenn wir Father Ignatius Beschreibung nicht gehabt hätten, wären wir mit Sicherheit nie auf die Idee gekommen, dass sich hinter der Adresse eine kirchliche Einrichtung befinden würde. Ein großes dunkles zweigeteiltes Holztor verwehrte den Zutritt zum Gelände. Wir fanden weder eine Klingel noch einen Türklopfer. In die Tür selbst war jedoch ein kleines Schiebefenster eingearbeitet, welches sich nur von innen öffnen ließ. Ich umfasste den Türknauf und versuchte ihn zu drehen. Erfolglos.

Ich rüttelte am Knauf, aber das Tor blieb verschlossen. „Lass mich mal”, sagte Suko und holte seinen Dietrich hervor. Schon nach wenigen Sekunden hatte er das Schloss geöffnet und wir konnten durch das Tor hindurch.

Suko drückte das große Tor ins Schloss, bis es hörbar einrastete. Durch die hohe Mauer war von außen nicht erkennbar, dass im Hintergrund ein einstöckiges, langgezogenes Gebäude stand. Eine kleine Treppe führte schließlich zur Eingangstüre des Ordenshauses. Suko zückte bereits sein Einbrecherbesteck, während ich meine Beretta zog. Ich traute der Stille und dem vermeintlichen Frieden keineswegs. Es klickte, als Suko die Tür aufschloss und sie einen kleinen Spalt breit öffnete. Mit der Pistole im Anschlag öffnete ich den Zugang des Hauses und glitt hindurch.

Angespannt durchschritten wir vorsichtig einen kleinen Eingangsbereich, ehe wir auf einem breiten Flur standen. Rechts führte eine Treppe nach oben. Auf der linken Seite befand sich ein Gang, gesäumt von einigen Zimmertüren, der am Ende nach rechts abknickte. „Wollen wir uns aufteilen?”, fragte Suko und nickte mit seinem Kopf in Richtung Gang. „Das wird wohl das Beste sein. Auch wenn ich ein echt ungutes Gefühl habe. Hier ist es so totenstill. Aber gleichzeitig glaube ich, dass wir nicht allein sind. Also pass auf dich auf, Suko. Von der Dunklen Mutter möchte ich nicht in den Arm genommen werden.” Suko grinste mich an, wurde aber gleich wieder ernst. Er nickte mir zu und wandte sich den Türen zu, während ich langsam die Treppe nach oben ging.

Ich hielt die Beretta in beiden Händen und hielt den Blick stets nach oben gerichtet. Ich kam ohne Zwischenfälle im ersten Stock an. Seltsamerweise ließ die Anspannung noch immer nicht nach. Ich stoppte kurz und lauschte. Kein Geräusch war zu hören. Ich blickte in einen langen, düsteren Gang, in welchem sich links und rechts Türeingänge befanden. Hier mussten die Schlafgemächer der Schwestern sein. Behutsam ging ich den Gang entlang. Von meiner Position aus konnte ich erkennen, dass die meisten Türen offenstanden. Ich riskierte einen kurzen Blick in das erste Zimmer und konnte ein eher funktional denn persönlich eingerichtetes Zimmer erkennen. Erst jetzt fiel mir der leicht muffige Geruch auf. So als ob hier tagelang niemand gelüftet hätte. Vorsichtig ging ich weiter und spähte immer kurz in die offenstehenden Zimmer. Sie waren alle gleich karg eingerichtet.

Als ich das dritte Zimmer passiert hatte, änderte sich mit einem Mal der Geruch. Die abgestandene Luft wich einem leichten Krankenhausgeruch. Ich verzog das Gesicht. Ich mochte diesen Geruch nicht, zumal sich noch etwas Anderes dazu gemischt hatte. Irgendwie metallisch, so eine Art Kupfer.

Ich entdeckte eine große geschlossene Doppeltüre. Ich ging langsam auf sie zu. Der Geruch verstärkte sich. Ich erreichte die Tür, drehte vorsichtig den altertümlichen Knopf und öffnete sie schließlich. Wie eine Wand schlug mir der Gestank entgegen. Eine Mischung aus Desinfektionsmitteln, altem Blut und verwesendem Fleisch. Sofort sah ich auch den Grund dafür. Der wie ein Behandlungszimmer eingerichtete Raum war voll von mindestens vier Behandlungsliegen, die allesamt voller Blut waren. Fette Fliegen summten bereits um die eingetrockneten Blutlachen herum.

Auf dem Boden zwischen den Liegen lagen dünne Strange, die bläulich weiß schimmerten und den ekelerregenden Verwesungsgeruch abzugeben schienen. Ich ging einen Schritt näher, um mir das genauer anzusehen. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr, wollte mich noch drehen, doch dann bekam ich heftig eins über den Schädel gezogen. Ich verlor meine Beretta, die sich wie zum Hohn fröhlich über die blutverkrusteten Fliesen aus meiner Reichweite drehte und dort in einer Blutpfütze liegen blieb. Ich selbst landete ebenfalls auf dem dreckigen Boden zwischen zwei Liegen.

Schmerzen durchzuckten meinen Schädel, ich konnte mich kaum bewegen. Mein Sichtfeld war eingeschränkt und verschwommen, ich konnte nur noch Schemen wahrnehmen. Mit scheinbar übermenschlicher Anstrengung gelang es mir, mich auf den Rücken zu drehen. Wie durch einen Tränenschleier sah ich meinen Angreifer. Mit einer mörderischen Gelassenheit ging er nach links und zog eine Schublade auf. Mein Sichtfeld besserte sich endlich, auch wenn ich weiterhin kaum in der Lage war, mich zu bewegen. So sehr hatte mich der Kopftreffer in Mitleidenschaft gezogen.

Ich erkannte, dass mein Angreifer eine Frau war. Sie trug eines von diesen Krankenhaushemden, die hinten zusammengeschnürt wurden. Vorne, im Bereich der Scham, war es blutdurchdrängt. Sie war mittelgroß, hatte langes, lockiges Haar, welches ihr jedoch in fettigen Strähnen wirr vom Kopf herunterhing Sie hatte ihren rechten Arm hoch erhoben. Aus ihrer Hand blitzte ein scharfes Skalpell. Ich versuchte von ihr wegzurutschen, glitt aber auf dem blutigen Bodenbelag immer wieder aus. Ich war auch noch nicht in der Lage, mich vollends aufzurichten, geschweige denn mich irgendwie zu verteidigen.

„Hallo, John Sinclair!”, kam es mir entgegen. „Erinnerst du dich an mich? Natürlich tust du das. Wie könntest du mich vergessen?” Die Person vor mir sprach mit der Stimme der Dunklen Mutter und lachte höhnisch. Eiskalt fuhr es mir über den Rücken. „Bei unserer ersten Begegnung habe ich dich verschont. Jetzt möchte ich dein Blut spritzen sehen.” Die Frau ging in die Hocke und beugte sich über mich. Unfähig mich zu wehren, blickte ich ihr dennoch trotzig entgegen. Ihr Arm war noch immer in die Luft gestreckt, das verdammte Skalpell ragte aus ihrer Faust. Sie schrie auf, als sie es nach unten stieß. Ein heller Blitz durchzuckte den Raum, traf meine Angreiferin und schleuderte sie gegen die Krankenauseinrichtung. Ich sah noch, wie eine Liege ebenfalls von einer Kraft getroffen wurde und mit Wucht auf mich fiel. Dann gingen bei mir endgültig die Lichter aus.

„John! Komm zu dir!” Wie aus weiter Entfernung hörte ich die Stimme. Sie kam mir sehr vertraut vor. Mein Kopf schmerzte noch immer höllisch. Ich konnte meine Augen kaum öffnen. Ein kurzer Stöhnlaut kam über meine Lippen. „John! Mach die Augen auf. Komm schon!” Ich vernahm Sukos Stimme. Ich kämpfte gegen die Bewusstlosigkeit an und schaffte es, meine Augen zu öffnen. Ich lag noch immer auf dem Boden des Krankenzimmers des Ordenshauses. Links neben mir die umgestürzte Behandlungsliege, die mich schließlich vollends ausgeknockt hatte. Ich richtete mich vorsichtig auf. Mein Kopf schien gleich in tausend Teile zerspringen zu wollen. Irgendwas huschte an mir vorbei und verschwand aus dem Zimmer. Ich konnte beim besten Willen nicht erkennen, wer oder was das gewesen ist.

Allmählich verschwand der Schleier vor meinen Augen und ich konnte zunehmend schärfer sehen. Ich sah mich um. Ich entdeckte meine Angreiferin bewusstlos am Boden liegen. Ich rief nach Suko, doch aus meinem Mund kam nichts weiter als ein Hauch. Ich griff mir an den schmerzenden Schädel. Wie ein Anfänger habe ich mich übertölpeln lassen. Und mit was zum Henker hat diese Frau zugeschlagen, dass es mich derart aushebeln konnte?

Das Schwindelgefühl ließ nach und ich konnte wieder einigermaßen klar denken. Wo blieb eigentlich Suko? Der hatte mich doch gerufen? Da hörte ich Schritte im Gang. Ich versuchte auf die Beine zu kommen. Mein Kreislauf hatte jedoch was Anderes vor und so stürzte ich wieder hilflos auf den Boden. Jetzt begannen die Schritte auf dem Gang zu rennen und Suko stieß die Tür zum Krankenzimmer auf, die Beretta schussbereit in der Hand. Er schaute auf mich und sah dann die bewusstlose Frau. Suko steckte seine Waffe weg. „Was ist denn hier passiert?” Er packte meine ausgestreckte Hand und half mir auf die Beine. Dann zog er einen Stuhl heran und setzte mich darauf. „Alter, ich weiß es nicht.” Ich schilderte Suko mein Erlebnis und war froh, dass ich einigermaßen wieder auf dem Damm war. Suko hatte mir zugehört und nebenbei die noch immer reglose Frau am Boden untersucht. „Sie lebt. Aber wir sollten einen Krankenwagen rufen. Sie hat anscheinend Blut verloren.” Vorsichtig erhob ich mich von meinem Stuhl. Zum Glück blieb ein weiterer Schwindelanfall aus. Die Schmerzen in meinem Kopf waren auch nicht mehr so stark. Ich hatte eben einen Dickschädel, auch wenn wohl am Hinterkopf eine Beule zurückbleiben würde.

Ich beugte mich runter zu der Frau und sah sie genauer an. Jetzt nahm ich auch ihren Geruch wahr. Ihre letzte Dusche musste schon eine ganze Weile her sein, genauso wie ihre letzte Mahlzeit, denn sie wirkte sehr ausgezehrt. Ihre Füße waren kohlrabenschwarz, ihre Beine ebenso mit Schmutz bedeckt wie ihre Arme. Das Krankenhaushemd war starr vor Schmutz, von dem eingetrockneten Blut in Schritthöhe ganz zu schweigen. Was hat diese Frau nur durchmachen müssen? Ich blickte mich um und entdeckte das Skalpell, welches sie mir vorhin noch in den Leib stoßen wollte. Es lag weit außer ihrer Reichweite.

„Komm, Suko, wir legen sie auf eine der nicht so schmutzigen Liegen.” In dem Moment, als ich das ausgesprochen hatte, drang ein Stöhnen aus ihrem Mund. Flatternd öffneten sich ihre Augen.
„Wo bin ich?”, fragte sie leise und schaute sich verwirrt um. „Und wo ist mein Baby?” Ihre Stimme wurde lauter und sie kreischte: „Wo ist mein Baby?” Suko und ich blickten uns fragend an. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das hier war eine Art Kreißsaal. Die dünnen bläulich weißen Stränge, die allmählich schon verwesten, waren Nabelschnüre. Hier sind Kinder zur Welt gekommen. „Wo ist mein Baby?”, schrie sie und fing an um sich zu schlagen. Suko hielt ihre Arme umfangen und versuchte beruhigend auf sie einzureden. „Madame. Wir sind von der Polizei. Scotland Yard um genau zu sein. Was ist passiert?” Sie hörte auf um sich zu schlagen und fing an hemmungslos zu weinen. „Wo ist mein Baby?”, fing sie wieder an. Sie schluchzte herzzerreißend. „Ich bin sicher, Ihrem Baby geht es gut”, sagte Suko.

Tränen liefen ihr über die Wangen und hinterließen helle Streifen im schmutzigen Gesicht. Suko wiegte sie im Arm und versuchte ihr ein Geborgenheitsgefühl zu geben. „Ich bin John Sinclair. Und das ist mein Freund und Kollege Suko. Darf ich fragen, wie Sie heißen?” „Ich heiße Denise.” Flüsternd kam es über ihre Lippen. Ohne Aufforderung fuhr sie fort: „Ich bin hier im Schwesternorden untergekommen, obwohl ich gar nicht religiös bin. Sie erkannten meine Not und halfen mir sofort und ohne groß Fragen zu stellen.” Weitere Tränen rannen ihr übers Gesicht. „Wir waren im ganzen drei Frauen, die allesamt kurz vor der Niederkunft standen. Wir waren sogar alle bereits in diesem Zimmer, das extra dafür hergerichtet wurde. Die Wehen hatten gerade eingesetzt, als plötzlich eine Frau das Zimmer betrat.

Sie war total in schwarz gekleidet. Es war auch eine Art Ordenskleid, wissen Sie, aber nicht so eines wie von der Mutter Oberin. Es war irgendwie dunkler und es strahlte eine gewisse Bösartigkeit aus.” Denise machte eine Pause und wischte sich mit dem Ärmel durchs Gesicht. „Dann trat sie wortlos an die Liege von Gwen heran, beugte sich hinab und küsste sie. Aber das war kein schwesterlicher Kuss, wenn Sie verstehen, was mich meine. Es war ein fordernder Kuss. Da war Verlangen im Spiel, welches auch von Gwendolyn komischerweise erwidert wurde. Dann trat sie auf mich zu. Ihre kalten Augen fixierten mich wie eine Schlange das Kaninchen. Ich konnte Lust und Begierde in ihrem Gesicht ablesen. Dann beugte sie sich zu mir herunter und versuchte mich zu küssen. Ich versuchte mich zwar zu wehren, doch sie packte mich. Von da an weiß ich nichts mehr. Dann erwachte ich hier auf dem Boden. Ohne mein Baby. Wo ist mein Baby, Mister Sinclair? Wo ist mein Kind?”

„Es ist bei der Dunklen Mutter!” Die Stimme, die wir alle vernommen hatten, kam durch die geöffnete Tür. Gleichzeitig drehten wir uns um. Ein Junge stand in der Tür. Ein Junge, den ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Es war Elohim. Der Junge mit dem Jenseitsblick.

Himmel, wie lange hatte ich den Jungen mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht mehr gesehen? Als wir uns das letzte Mal getroffen hatten, konnte er Blitze aus seinen Fingern schießen lassen, in der Luft schweben und mit seinem Blick töten. Allerdings konnte er damals seine Kräfte nicht kontrollieren. Als Kind von Raniel, dem Gerechten und Lilith, der ersten Hure des Himmels, war es bestimmt nicht einfach, mit solchen Kräften ausgestattet zu sein. Raniel hatte sich seiner angenommen. Ich wusste allerdings nicht, in wie weit er seine Gabe beherrschen konnte und auf die Nase binden wollte Elohim mir das bestimmt auch nicht. Noch immer sprachlos starrten wir den Jungen mit dem mädchenhaften Gesicht, der eigentlich schon lange ein junger Mann sein musste, fragend an.

„Es ist noch nicht zu spät, John Sinclair!”, rief Elohim. „Die Kinder können noch gerettet werden. Die Zeremonie des Blutes hat noch nicht begonnen.” „Was für eine Zeremonie des Blutes?”, fragte ich.

Elohim antwortete: „Zwar wurden die Mütter durch den Kuss der Dunkelheit von der Dunklen Mutter beeinflusst und dadurch auch die Kinder, aber erst durch die Blutzeremonie werden sie komplett an die Dunkle Mutter gebunden. Das müsst ihr verhindern.” „Dann weißt du, wo wir sie finden können?” „Nein!”, antwortete der Junge mit dem Jenseitsblick. „Das weiß ich nicht.” Elohim streckte seinen Finger aus und deutete auf Denise. „Aber sie weiß es. Sie ist noch immer mit ihr verbunden, wenn auch schwach. Sie kann euch zur Dunklen Mutter führen.”

„Ich will zu meinem Baby!”, kam es heulend von Denise. „Aber sie muss in ein Krankenhaus!”, rief ich. „Sie kann sich eine Infektion oder sonst was holen. In ihrem Zustand kann sie unmöglich auf die Straße.” „Die Kinder können noch gerettet werden”, wiederholte Elohim. „John, wenn wir tatsächlich noch die Chance haben, die Kinder zu retten, ist eine Infektion wohl das kleinere Problem. Abgesehen davon, glaube ich kaum, dass wir Denise freiwillig einliefern lassen können, solange sie ihr Kind nicht in den Armen hält.” Suko hatte ja recht. Trotzdem hatte ich Bauchschmerzen bei dem Gedanken daran, mit einer mental und körperlich angegriffenen jungen Frau in die Höhle des Löwen zu marschieren. „Okay”, sagte ich. „Aber nur unter einer Bedingung!”

Während aus einem der kleinen Nasszellen das Rauschen einer Dusche klang, saßen Suko und ich in Denises ehemaligem Wohnraum. Wir hatten sie zu einer heißen Dusche überreden können. Ich selbst hatte mich auch umgezogen, nachdem Suko mich freundlich darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ich aussehe wie Sau. Und mich zudem schmutzig gemacht hätte. Eine Tasche mit Wechselklamotten hatte ich ja meistens im Auto parat liegen. Auch meine Waffe hatte ich zumindest oberflächlich gereinigt. Zwischenzeitlich war Elohim ohne ein Wort verschwunden und weder Suko noch ich wussten so recht, was wir von seinem Auftritt zu halten hatten.

„Was denkst du, Suko? Was sollte der Auftritt von Elohim? Hat er mich vorhin gerettet?” Suko wusste inzwischen von Denises Angriff auf mich und dem Blitz. „Welche Rolle spielt Raniel? Welche Lilith? Kommt da was ganz Großes auf uns zu?” „Ich würde die Kirche erst mal im Dorf lassen”, ließ Suko gewohnt ruhig durchblicken. „Wir wissen gar nichts konkret. Elohim taucht nach Jahren einfach so auf und verschwindet ebenso wieder.”

„Der Blitz, den ich kurz gesehen habe, hätte tatsächlich aus seinen Händen stammen können. Aber irgendwas daran finde ich seltsam. Irgendwie passt das nicht.” Ich verstummte und dachte nach. „Wieso warst du eigentlich so schnell bei mir oben? Wolltest du dich nicht unten umsehen?” „Das habe ich auch und bin auf eine Kapelle gestoßen. Im Inneren fand ich ein heilloses Durcheinander vor. Sämtliche religiösen Symbole waren zerstört, Bibeln lagen zerfetzt und zerrissen herum und leider fand ich verbrannte Überreste mindestens eines Menschen. Bevor ich die jedoch untersuchen konnte, hörte ich dich rufen.” „Merkwürdig”, bemerkte ich. „Ich kann mich nicht erinnern, nach dir gerufen zu haben. Das wird immer seltsamer.” „Nicht, dass wir es noch mit einem Geist zu tun bekommen.” „Witzbold!”

In dem Moment hörten wir, wie die Brause abgedreht und der Plastikvorhang beiseitegeschoben wurde. Kurz darauf wurde die Badtür geöffnet und Denise stand betreten mit einem großen Badetuch umwickelt vor uns. Ich stand auf. „Wir warten vor der Türe auf sie, Denise.” Sie hauchte uns ein leises „Danke” hinterher, während wir die Tür von außen schlossen.
„Warum hat eigentlich die Dunkle Mutter hier ihre Zelte abgebrochen? Es wäre hier doch eigentlich ideal für sie gewesen?” „Ich kann mir nur vorstellen, dass sie wusste, dass der Standort verraten wurde. Was ja auch stimmt, schließlich hat Father Ignatius uns informiert.”
Die Tür ging auf und schüchtern erschien Denise im Türrahmen.

Sie hatte eine blaue Jeans und ein schwarzes Kapuzenoberteil mit Reißverschluss an. Ihr langes, lockiges Haar war nach hinten gebunden. Sie schaute uns fragend an. In diesem Moment kam sie mir vor wie ein kleines, schüchternes Mädchen, das sich nicht traut nach einem Stück Schokolade zu fragen.

„Wie geht es Ihnen?”, fragte ich. „Danke. Gut. Viel besser nach der Dusche.” Denise schaute zu Boden. „Ich habe an mein Baby gedacht. Die ganze Zeit. Dann habe ich es plötzlich gesehen. Als würde ich nicht mehr unter der Dusche stehen, als wäre ich direkt dabei. Sie bereiten etwas vor. Eine Zeremonie. Ich habe das Haus wiedererkannt. Es ist eine ähnliche Einrichtung wie diese. Ich selbst war zwar noch nie dort, trotzdem erkenne ich es.” Denise holte tief Luft. „Sie sind nach Südosten gegangen. Nach Leatherhead. Nördlich des Norbury Parks.” „Dann lassen Sie uns keine Zeit verlieren!”

Die Fahrt nach Leatherhead dauerte knappe 45 Minuten und verlief unspektakulär. Denise schaffte es sogar, ein wenig die Augen zu schließen. Wir überlegten, uns einen Schlachtplan zurechtzulegen, aber schon nach kurzer Zeit war uns klar, dass wir nicht wussten, was uns erwarten würde. So verging die Fahrt schweigend und als wir das Ortsschild passierten, meldete sich Denise vom Rücksitz. „Es ist in der Nähe. Ich kann sie spüren.” Sie tippte sich auf die Brust. „Hier drin kann ich sie spüren.” Sie dirigierte Suko vorbei am berühmten ‚Running Horse‘ Pub und vorbei an einer großen Kirche.

„Dort drüben ist es. Dort ist mein Baby.” Suko hielt den Wagen an. Ich drehte mich zu ihr um: „Denise. Jetzt kommt der Teil, in welchem der Held im Film sagt, dass Sie im Auto sitzen bleiben sollen. Sie und ich wissen, dass wir weder in einem Film sind, noch, dass ich Sie davon abhalten kann, im Auto sitzen zu bleiben. Ich möchte aber dennoch, dass Sie auf sich aufpassen. Versprochen?” Trotz der angespannten Situation huschte ein Lächeln über Denises Gesicht. „Versprochen!”, antwortete sie.

Wir fühlten uns wie bei einem Déjà-Vu. In derselben Situation waren wir vor einigen Stunden gewesen. Dort allerdings zu zweit. Jetzt hatten wir Denise im Schlepptau und ich hoffte, dass sie nicht überreagieren würde. Wie schon zuvor schloss Suko die Tür mit dem Dietrich auf und wir glitten nacheinander hindurch.

„Was jetzt?”, flüsterte Suko. „Wie gehabt”, antwortete ich. „Wir teilen uns auf. Ich durchsuche mit Denise das Erdgeschoss und du gehst nach oben. Wenn tatsächlich hier ein Ritual abgehalten werden soll, dann vermute ich es hier unten.” Wie auf Kommando hörten wir einen dumpfen Singsang, der anschwoll und wieder abebbte. Suko nickte mir zu und verschwand nach oben. Denise umfasste meinen Arm und schaute mich angsterfüllt an. „Noch ist Zeit für Sie, sich in Sicherheit zu bringen. Wir werden Ihr Kind retten, das verspreche ich Ihnen!” Sie drückte meinen Arm fest und entschlossen. „Auf keinen Fall werde ich ohne mein Baby dieses Haus, oder was immer das auch ist, verlassen.” „Dann lassen Sie uns gehen.”

Wir gingen vorsichtig den Gang entlang. Ich vorne, Denise hinter mir. Wir gingen auf eine große Flügeltür zu. Dahinter wurden die Stimmen lauter. Es musste sich um eine Art Saal handeln. Ich erreichte die Türe und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Sie ließ sich lautlos öffnen. Sofort hallte uns ein Gesang entgegen. Er hatte Ähnlichkeit mit mittelalterlichen Chorälen, doch die zeitweise Dissonanz der Melodie, gepaart mit einer schon bösartigen Intonation, ließ keine Zweifel aufkommen, dass es sich hier um ein satanisches Loblied handelte. Ich lugte vorsichtig hindurch und sah in einen Saal, der wie eine Art Kapelle aufgebaut war.

Im Mittelpunkt stand mit dem Rücken zu uns die Dunkle Mutter. Jeweils zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten standen zwei weitere Frauen in Ordenskleidung, die sich an den Händen hielten und sangen. Sie bewegten sich dabei monoton von links nach rechts. Ich glitt ganz durch die Tür und ging hinter einer Säule in Deckung. Denise folgte mir gebückt. Ich schaute mich vorsichtig um und erkannte im ersten Stock eine Art Balustrade. Ich richtete meinen Blick wieder nach vorn und konnte im Zentrum des unheimlichen Zirkels eine übergroße Kupferschale erkennen. Zwei eingewickelte Bündel lagen darin. Das mussten die Babys sein.

„Du musst dich beeilen, John Sinclair! Das Ritual darf nicht beendet werden!”, schallte es durch meinen Kopf.

In diesem Moment drehte die Dunkle Mutter ruckartig ihren Kopf in unsere Richtung und der Gesang hörte schlagartig auf. Ihre Augen waren weit geöffnet und die Eiseskälte darin strahlte bis zu uns.

„Hallo, John Sinclair! Willkommen zurück, Denise. Ich freue mich sehr euch hier begrüßen zu dürfen. Und noch mehr freue ich mich darauf, euch als Gäste der Blutzeremonie beiwohnen zu lassen.” Die Dunkle Mutter breitete ihre Arme aus, als würde sie ihre verlorene Familie wieder in die Arme schließen wollen.

„Nanu? Bist du etwa verwundert, Sohn des Lichts? Glaubst du etwa, ich hätte nicht gespürt, was mit Denise passiert ist? Ebenso wie ich gespürt habe, dass ihr unterwegs zu mir seid? Ebenso wie ich dein Kreuz gespürt habe? Wie töricht von dir, mich so dermaßen zu unterschätzen.” Die Dunkle Mutter ließ ihre Arme sinken und stolzierte wie ein Model auf dem Laufsteg uns zu. Ich hatte mich mittlerweile komplett aufgerichtet, da es keinen Sinn mehr machte, mich zu verstecken.

Mit einer fließenden Bewegung zog ich die Beretta und hielt auf die Dunkle Mutter an. Ich wusste, dass ich sie damit weder verletzen noch beeindrucken konnte, aber die Waffe gab mir ein gewisses Sicherheitsgefühl. „Nanana, wer wird denn gleich? Du brauchst hier deine Pistole nicht, Geisterjäger! Sei artig, steck sie weg und tritt nach vorne in unseren Kreis.”

Die Dunkle Mutter hatte mich mittlerweile erreicht und stand kaum eine Armlänge von mir entfernt. In ihrem makellosen Gesicht blitzten ihre eisblauen Augen. Ich ließ die Beretta sinken und steckte sie schließlich wieder ins Holster. Innerlich kochte ich vor Wut. Ich wurde hier vorgeführt wie ein Hund bei einer Tierschau und das stank mir gewaltig.

Als hätte sie es geahnt, legte die Dunkle Mutter blitzschnell ihren Zeigefinger auf meine Lippen und meinte: „Schschsch, Geisterjäger! Ganz ruhig. Zwar mag ich es, wenn dein Blut in Wallung gerät, aber das heben wir uns für nach der Zeremonie auf!” Sie leckte sich lasziv über ihre Lippen und während ich mich angewidert abwenden wollte, musste ich leider zugeben, dass die Dunkle Mutter eine gewisse erotische Ausstrahlung an den Tag legte.

Sie drehte sich von mir weg und gab ihren Dienerinnen ein Zeichen. Sofort eilten zwei herbei und nahmen Denise in ihre Mitte. Sie fing an zu weinen und stemmte sich dagegen. „Nein, ich will nicht. Ich will doch nur mein Baby. Ich will mein Kind!” Jetzt schrie sie. Doch die Dienerinnen der Dunklen Mutter kannten keine Gnade und schleiften sie in Richtung Altar. Die Dunkle Mutter grinste mich teuflisch an. „Jetzt werden wir die Zeremonie zu Ende bringen, John Sinclair. Ich muss zwar zugeben, dass ich noch immer nicht weiß, wie du es geschafft hast, den Kuss der Dunkelheit von Denise zu nehmen. Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Die Zeremonie des Blutes kann beginnen!”

Die letzten Worte schrie die Dunkle Mutter. Obwohl ich keinerlei Fesseln trug und auch mental in absolut keiner Weise beeinträchtigt war, ging ich der Dunklen Mutter nach. Ich wusste, dass der Einsatz meines Kreuzes keinerlei Wirkung zeigen würde. Die Beretta war ebenso nutzlos. Weitere Waffen hatte ich nicht dabei. Also folgte ich der Dunklen Mutter zu der übergroßen Kupferschale, in der die beiden Babys nebeneinanderlagen. Denise wurde noch immer von den Dienerinnen festgehalten und konnte sich kaum rühren.

Von den Kindern selbst war kein Laut zu hören. Sie schienen das Ganze interessiert zu beobachten. Wie eine Königin breitete die Dunkle Mutter ihre Arme aus. Sie hob ihre Stimme an und rief kreischend: „Satanas luciferi excelsi! Dir alleine weihe ich diese Kinder. Nimm sie auf als deine Krieger. Als deine Kämpfer in der Front gegen deine Feinde.” Ich wusste nicht, woher sie plötzlich die Schale hatte, die sie nun hocherhoben über ihrem Kopf hielt. Mir war klar, dass sich darin nur Blut befinden konnte. Blut für die Blutzeremonie. „Dieses Blut wird euch ewig an mich und an den höchsten aller Götter binden.” Bevor Mater Andhera den Inhalt der Schüssel über die beiden Babys ergießen konnte, hörte ich den Ruf, der alles veränderte: „Topar!”

Suko hastete die Treppen in das Obergeschoss hinauf. Er hielt sich erst gar nicht mit der Untersuchung der einzelnen Zimmer auf. Er huschte um die Ecke und rannte lautlos den Gang entlang. Von weitem konnte er schon zwei Glastüren erkennen, die zu einem Balkon oberhalb eines großen Saales führten. Bevor er die Türen öffnete, blickte er hindurch. Dort sah er zum ersten Mal die Dunkle Mutter. Kurz beobachtete er die Szenerie und konnte ganz deutlich die beiden Babys von oben erkennen, die bewegungslos, aber mit offenen Augen, in dem Kupfergefäß lagen.

Suko bekam mit, wie die Dunkle Mutter John Sinclair ansprach und Denise von ihren Dienerinnen an die Schale gezerrt und festgehalten wurde. Da erkannte er einen Treppenabgang zu seiner rechten. Keine Sekunde zu früh sprang er lautlos mehrere Absätze nach unten. Als er sah wie die Dunkle Mutter die Schale mit dem Blut über die Kinder gießen wollte, griff er nach seinem Stab des Buddha und rief: „Topar!”

Alle bis auf ihn waren in ihrer Bewegung erstarrt. Er hatte nun ganze fünf Sekunden Zeit zu handeln. Nur durfte er in dieser Zeit niemanden umbringen, sonst würde die Magie des Stabes erlöschen. Suko stürmte auf die Dunkle Mutter zu, riss ihr die Schale aus der Hand und versetzte ihr einen Stoß mit seiner Schulter. Danach schleuderte er die Schale gegen die Wand und konnte gerade noch Denise aus der Gewalt der Dienerinnen befreien, als die fünf Sekunden vorbei waren.

Die Verwirrung war perfekt. Ich hatte mich als erster gefasst, da ich die Wirkung des Stabs ja bestens kannte. Das Behältnis mit dem Blut knallte gegen das Gemäuer und der Inhalt hinterließ blutige Schlieren an der Wand. Die Dunkle Mutter stürzte zu Boden und wusste im ersten Moment nicht, wie ihr geschah. Ebenso verwirrt war Denise, doch als sie registrierte, dass sie niemand mehr festhielt, schnappte sie sich ein Baby und rannte Richtung Ausgang. Suko hatte inzwischen seine Dämonenpeitsche ausgefahren. Es war Zeit zu testen, ob die Dunkle Mutter auch dieser Magie, die für viele Dämonen absolut tödlich war, standhalten konnte.

Gerade als er zuschlagen wollte, wurde Suko von zwei Dienerinnen umgerempelt. Sie hatten sich einfach gegen ihn geworfen und ihn so zu Fall gebracht. Suko wurde trotz seiner hervorragenden Kampfreflexe dermaßen überrascht, dass eine der Frauen auf ihm hocken konnte und wie von Sinnen auf ihn einschlug.

Wutentbrannt richtete sich die Dunkle Mutter auf. Selten hatte ich in einen so hasserfüllten Gesichtsausdruck geblickt. Die Mundwinkel waren vor Bosheit nach unten verzerrt und ihre eisblauen Augen fixierten mich mit Todesverachtung. Langsam bewegte ich mich nach hinten, zur Türe hin, durch die auch Denise verschwunden war.

„So ist das also, John Sinclair. Du bist der Dunklen Mutter gegenüber ungezogen. Dann spüre auch die Konsequenzen!” Sie machte eine Drehbewegung zur Seite und ließ ihre Hände vorschnellen. Aus ihren Fingern schossen schwarzen Flammen, die mit tödlicher Präzession auf mich zurasten.

Wie gelähmt und zur Untätigkeit verdammt sah ich die schwarzen Feuerstrahlen auf mich zujagen. In diesem Moment gab ich nicht mal mehr einen Pfifferling auf mein Leben. Kurz bevor mich die Feuersäule erreichte, zerstoben sie plötzlich wirkungslos und eine Wand aus reinstem Licht baute sich kurz vor mir auf. Die Dunkle Mutter schrie auf vor Wut und ehe sie reagieren konnte, wurde sie von einer unsichtbaren Kraft erfasst. Wie von einem Dampfhammer getroffen, wurde sie gegen die blutverschmierte Wand geschleudert und blieb regungslos liegen. Diese Kraft erfasste auch ihre Dienerinnen und ließ sie durch die Luft wirbeln.

„John Sinclair! Beeil dich. Ich kann sie nicht lange aufhalten. Ihr müsst fliehen.” Wie vorhin schallte die Stimme durch meinen Kopf. Elohim? Nein, das war eindeutig eine Frauenstimme. Doch ehe ich mir weitere Gedanken darüber machen konnte, sah ich wie sich die Dunkle Mutter regte und begann, sich langsam aufzurichten. Ich schrie: „Suko!” und er verstand augenblicklich. Er nahm das Kind an sich und rannte Richtung Ausgang.

In diesem Moment hatte sich die Dunkle Mutter vollends aufgerichtet. Das Knurren kam aus ihrem tiefsten Inneren. Mit hasserfülltem Zorn schrie sie uns etwas entgegen, was ich nicht verstand, mir auch in dem Moment ziemlich egal war. Erneut spürte ich etwas Gewaltiges auf uns zurasen. Und wieder prallte es an einer Mauer aus Licht ab. Diesmal allerdings wurde die Kraft nicht absorbiert, sondern abgelenkt. Sie schoss schräg in die Höhe und zerfetzte augenblicklich die Decke. Betonbrocken krachten von oben herab und das Dach drohte innerhalb von Sekunden einzustürzen.

Ich drehte mich um, hastete zur Tür und konnte aus den Augenwinkeln auf dem oberen Balkon eine rothaarige menschliche Gestalt ausmachen. Für einen genaueren Blick hatte ich keine Zeit mehr, da unablässig Gesteinsbrocken herabregneten. Wir entkamen durch die Vordertür und konnten uns glücklich schätzen, dass wir ohne größere Blessuren davongekommen sind. In relativ sicherer Entfernung sahen wir, wie das komplette Haus in sich zusammenstürzte. So sehr ich mir das wünschte, ich glaubte nicht, dass die Dunkle Mutter darin umgekommen ist.

„Was für ein Kampf, Alter!”, hörte ich Suko sagen. Ich drehte mich zu ihm um und musste grinsen, als ich ihn so dastehen sah, mit einem Baby im Arm. „Steht dir gut. Könntest drüber nachdenken, dich zur Hebamme umschulen zu lassen.” Sofort wurden wir wieder ernst, als Denise aus dem Schatten der Umfriedung trat und ihr Baby in den Armen hielt. Die Tränen in ihren Augen waren nicht zu übersehen. „Etwas stimmt mit meinem Kind nicht!”, jammerte sie. „Es ist so still und es mag nicht trinken.” Jetzt begann auch Suko das Kind in Augenschein zu nehmen. „Ich bin jetzt ja nicht so der Babyexperte,” meinte er. „Aber normal ist das Verhalten echt nicht.”

Das fiel es mir siedend heiß ein. Hatte Elohim nicht erwähnt, dass die Kinder durch den Kuss der Dunkelheit an die Dunkle Mutter gebunden waren? Die Zeremonie des Blutes sollte zur endgültigen Verbundenheit führen und die Kinder auf Luzifers Seite ziehen. Jetzt endlich streifte ich die Kette mit meinem Kreuz über den Kopf und wollte auf Suko und das Kind zugehen.

„Tu das nicht, John Sinclair. Es könnte den Tod des Babys bedeuten.” Ich wirbelte herum. In einiger Entfernung stand eine kleine rothaarige Frau in einem grünen Gewand. Ihre Augen strahlten in einem ebenso satten Grün. Ihr Gesicht war voller Sommersprossen und das Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte, war von einer solchen Herzlichkeit, dass mir direkt warm wurde.

„Wer bist du?”, fragte ich.

„Ich bin Amber.” „Amber? Aber wie?” Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. „Für Fragen haben wir jetzt keine Zeit, Geisterjäger. Bringt mir die Babys.” Unaufgefordert steckte ich mein Kreuz weg, während Suko und Denise auf Amber zuschritten. „Uns bleibt nicht viel Zeit”, bemerkte Amber und streckte ihre Hände über den Köpfen der Kinder aus. Aus der Ferne hörte ich bereits Sirenen, die lauter wurden. Der Einsturz des Hauses war schließlich nicht geräuschlos vonstatten gegangen.

Amber sprach ein paar Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Um ihre Hände herum erschien ein Lichtkranz, der sich um die Köpfe der Kinder legte. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei. Mit einem Mal fingen die beiden Babys an zu schreien und mir fiel ein Stein vom Herzen. Denise setzte sich auf eine kleine Steinmauer und fing an, ihrem Baby die Brust zu geben.

„Ich muss jetzt gehen, John Sinclair. Wir sehen uns bald wieder, da bin ich mir sicher!”
„Wer oder was bist du? Und woher kommst du?”, fragte ich. „Ich bin Amber. Geschickt hat mich Nora Thorn.”

Zum zweiten Mal innerhalb eines Tages war ich sprachlos. Amber zog sich zurück und verschwand zwischen zwei Bäumen.

Mit quietschenden Reifen kamen die Einsatzkräfte im Vordergrund des Hauses zum Stehen. Ärzte und Sanitäter kamen auf uns und Denise zu, während Feuerwehrleute sich zu den Trümmern des Hauses begaben und mit Löscharbeiten begannen, da einige Teile Feuer gefangen hatten.

Dem Einsatzleiter hatte ich meinen Ausweis präsentiert und ihn an Sir James Powell, meinen Vorgesetzten, verwiesen. Suko hatte das Baby den Sanitätern übergeben und wir sahen wie Denise und ihr Baby in einen Rettungswagen verladen wurden.

„Woher wusste eigentlich Denise, welches Baby das ihre war?”, fragte Suko. „Ich nehme an Mutterinstinkt. Aber spätestens eine DNA-Analyse wird es zeigen. Lass uns nach Hause fahren. Ich brauche dringend eine heiße Dusche.”

Die Fahrt zurück ins Büro verlief größtenteils schweigend, nachdem wir unseren Chef ins Bild gesetzt hatten. Father Ignatius wollte ich später informieren. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Erst Elohim und dann Nora Thorn. Beide hatten wir seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen und jetzt tauchen beide auf einmal auf? Wie passte das ins Bild. Welche Rolle spielten sie? Und welche Rolle spielt die geheimnisvolle Amber, die es sogar schafft, der Dunklen Mutter die Stirn zu bieten? So sehr ich mir auch den Kopf zermarterte, ich kam zu keinem Ergebnis.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir zu Hause an. Suko und ich verabschiedeten uns vor der Wohnungstür.

Natürlich hat er mich noch zu sich zum Essen eingeladen, aber nach meiner Hilflosigkeit gegenüber der Dunklen Mutter wollte ich lieber für mich allein sein. Trotzdem musste ich irgendwas essen. Ich bestellte mir eine Pizza mit einem kleinen Salat. Dann stellte ich mich unter die Dusche, um die Zeit bis zur Lieferung zu überbrücken. Die heißen Strahlen taten mir unheimlich gut und wuschen den Dreck des Tages von mir ab.

Ich hatte mich bereits wieder angezogen und trocknete noch kurz meine Haare ab, als der Pizzadienst klingelte. Ich öffnete die Tür und stand verwundert vor einem großen Styroporkarton. Vom Pizzajungen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Ich hob den Karton auf und wunderte mich über das relativ hohe Gewicht. Ich stellte den Karton auf meinen Wohnzimmertisch und hob den Deckel.

Darin befand sich ein weiterer Karton, der allerdings nichts mit einem Pizzakarton zu tun hatte. Vorsichtig öffnete ich den Karton. Erschrocken taumelte ich zurück. Darin lag der abgeschlagene Kopf von Denise. Sie schien mich klagend anzusehen. Mit zitternden Händen nahm ich einen Zettel aus dem Karton, der teilweise mit geronnenem Blut besudelt war.
Darauf stand: Was mir gehört, bleibt auch bei mir, John Sinclair!

Wieder mussten wir eine tragische Niederlage gegen die Dunkle Mutter einstecken.

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13.08.2019 23:57
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So, nun habe ich auch mal wieder etwas weiter gelesen und muss sagen, ich bin immer noch begeistert. Tulimyrsky ist hier und da durch leichten Sarkasmus oder eingespielte Sprüche / Slogans weiterhin deutlich erkennbar, aber er schafft es weiterhin, die Dunkle Mutter sehr mysteriös und gefährlich darzustellen. Außerdem baut er interessante Charaktere aus der Vergangenheit ein, läßt sie aber nur die Seite erkennen, auf der sie aktuell stehen, sie bleiben aber weiterhin mysteriös und verschwinden im Hintergrund.

Auch wenn man hier und da kurz stockt und nachdenkt, ob das so nachvollziehbar ist, stört das nicht und liest sich auch nicht als fehler, echt gelungen, dein Talent ist erkennbar, deutlichst. Von mir ein sehr gut für diesen Teil!!!

LG Lessy großes Grinsen Alt

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Tulimyrsky Tulimyrsky ist männlich
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14.08.2019 11:22
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Danke sehr, Lessy. Freue mich immer über Reaktionen/Rezensionen, egal welcher Art. Besonders natürlich, wenn die Geschichte erfreuen konnte großes Grinsen großes Grinsen

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