Ein neuer Artikel, fresh for the Wochenende.
Here we go:

Learn the Alphabet with Musgrave
Heute:
S wie „Speicher, der“

Musgrave Hall, wie es da an der südenglischen Küste thront, ist schon ein beeindruckender Anblick. Eine helle Fassade kündet von einem Alter, das verschiedene Baustile, Umbauten und Ergänzungen gesehen hat. Trotzdem gibt das Haus ein harmonisches Bild ab.
Teil dieses Bildes ist das dunkel gedeckte Dach, mit verschiedenen, größeren und kleineren Giebelchen. Was sich jedoch unter ihm verbirgt, ist keineswegs so harmonisch. Eher ein Sammelsurium. Ein halbwegs gezähmtes Chaos voller Stehrümmchen, Schlabronzen, Särgen, Gemälden und – Harpunen.

Bisher hatte der Speicher von Musgrave Hall zwei Auftritte. Einen kleinen in Episode III („Der Dämon von Talamh“, GK 123), als Eliza nach möglichen Mitteln gegen den namengebenden Dämon sucht, und einen großen gleich im ersten Fall: „Der Schrecken aus dem Meer“ (GK 93).
In diesem ersten Fall lernen wir Eliza, die Gang, das Haus und einige der seltsamen Bewohner von Goodman’s Land überhaupt erst kennen. Und nicht nur Mr Chadwick wird sich gewundert haben, warum (umhimmelswillen) Eliza Walfangharpunen auf ihrem Speicher zu stehen hat. Nun: „Irgendwo mussten sie ja hin.“

Den Anfang der kruden Sammlung, die Objekte aller Alters- und Größenklassen umfasst, nahm ihren Anfang in der Leidenschaft Sir Henrys für allerlei ~Dinge~. Eine Liebelei, die er sich mit Elizas Vater, dem seligen Lord Desmondshire, teilte, so dass auch dessen Sammlung ihren Weg nach Musgrave Hall fand. Eliza konnte sich von all den Seltsamkeiten einfach nicht trennen, die ihre Mutter mit größtem Vergnügen entsorgt hätte. Kurzerhand ließ sie alles nach Musgrave Hall bringen – und nun steht es da, vereint mit all dem, das Henry seinerseits zusammengetragen hat. Man ahnt: Auch nach seinem Tod konnte Eliza sich nicht trennen. (Und man ahnt ja nicht, wann man beispielsweise ein paar Harpunen brauchen kann.)

Was findet sich alles dort oben, zugedeckt mit Tüchern, um die Schätze und Schlabronzen vor dem Staub zu bewahren?
Ich schließe grad die Tür auf und knipse das Licht an ...

Lupft man vorsichtig die ersten Tücher, stößt man auf edle Möbelstücke. Tischchen mit gedrechselten Beinen und mit Einlegearbeiten verzierten Platten, reich verzierte Kronleuchter, deren Kristalle leis klimpern, wenn man sie anstößt – und auf einem straff gepolsterten Sessel eine verglaste Box mit den Bälgern exotischer Vögel.
Ich schaue mich um und sehe, gleich neben der Tür, ein großes Regal voller Bücher. Auf einem Brett liegt, wie vergessen, ein seltsamer Dolch in seiner Scheide. Das wird Dillinger gar nicht gefallen. Ginge es nach ihm, würde er den gesamten Inhalt des Speichers ordnen und eine säuberliche Auflistung und Beschreibung anfertigen. Noch lässt Eliza ihn aber nicht, also wartet er geduldig.

Unter den Deckel einer großen Truhe kommen Hexenflaschen zum Vorschein. Manche gläsern, andere aus Ton. Ein süßlicher, unangenehmer Geruch geht von ihnen aus. Verwest da etwas? Immerhin weiß man, dass derlei magische Objekte auch Federn, Fell und anderes tierisches Material enthalten können. Was in diesen ganz genau ist, kann ich mit bloßem Auge nicht feststellen. Das Glas ist von innen zu verschmutzt. Aber vielleicht will ich es auch gar nicht so genau wissen.
Auch um das Buch, in dem die Aufzeichnungen und Lebenserinnerungen eines ehemaligen Henkers von Goodman’s Land enthalten sind, mache ich einen Bogen. (Aber merken Sie sich das, das wird nochmal wichtig.)

Man kann sich schon fragen, ob in Sir Henrys und Lord Desmondshires Sammelei irgendeine Methode war.
Zumindest über Henry kann ich sagen, dass er eine gewisse Neigung vom Grotesken und Unheimlichen hatte. Nicht so ausgeprägt vielleicht wie Eliza und Harker, aber schon nicht ganz weit weg. Er war es auch, der Harker gefördert hat. Mental wie finanziell. Ohne Sir Henry, und auch Rückenwind durch Lord Desmondshire, gäbe es heute wohl keinen „Professor“ Harker.
Aber auch mit seiner späteren Ehefrau verbrachte Sir Henry viel Zeit, gebeugt über allerlei kuriose Berichte, frisch erworbene Artefakte und zusammengesponnenen Theorien zu deren Ursprung. Vielleicht, könnte man sagen, war Henry der, der der Rationalität und den Fakten auf der Spur war (ohne den Zauber dabei zu vernachlässigen), während Eliza die Träumerin war, die wollte, und spürte, dass da mehr ist.

Ich schlendere den Mittelgang entlang, zu dessen Seiten die vielen Objekte aufgestellt sind. Dabei entdecke ich auch den Sarkophag, der Harker so in Aufruhr versetzt hat. Natürlich ist es kein echter. Nur eine Replik. Die Ägyptomanie war schließlich auch in England ganz groß; fast schon unfein, nichts „ägyptisches“ zu besitzen. Drin liegt in diesem Fall nur Cuthbert. Dies ist kein Onkel der Fitzgibbon’schen Familie, sondern eine Puppe. Keine besonders schöne, das muss man zugeben. Sie ist nach De-Loys Affen gestaltet. Einer der wahrscheinlich hässlichsten (sogenannten) Kryptiden aller Zeiten. Bekannt wurde er durch eine Fotografie von 1920. Sie zeigt einen schlanken Affen mit herunterhängenden Gliedmaßen, der auf einer Kiste sitzt. Sein Kinn wird von einem Stock gestützt, denn das Tier auf dem Bild ist tot. Und ein Hoax.

De-Loys Expedition (ab 1917) war nicht eben das, was man „erfolgreich“ nennen würde. Diverse Auseinandersetzungen mit Einheimischen, tropischen Krankheiten und allerlei Getier, dezimierten die Expedition in großen Schritten und auch allgemein kam nicht wirklich was bei raus.
Darüber, um was für ein Tier es sich nun bei jenem Affen handelt, gab und gibt es verschiedene Theorien. Am wahrscheinlichsten handelt es sich um ein Spinnenaffen-Weibchen. De-Loys Behauptung, das Tier sei stolze 1,50m groß gewesen (er wollte es wohl in Verbindung zu Erzählungen über menschenfressende Menschenaffenmonster bringen) kann man relativ schnell debunken. Die Abmessungen der mitabgebildeten Kiste stimmen nicht. Es wird sich um eine Munitionskiste gehandelt haben, die wesentlich kleiner ist, als die, die De-Loy angeblich verwendete. Ein richtiges Loch bekommt der Mythos vom Affen aber, wenn man den Bananenbaum (Staude) beachtet, der ebenfalls mit im Bild ist. Den gab es in der Wildnis dort nicht – die Story fällt also in sich zusammen.

Cuthbert geht auf Henrys Konto. Nur der Vollständigkeit halber. Kryptiden hatten es ihm eine Zeit lang angetan.

Auch die Harpunen stehen noch immer hier. Oder: Wieder. Der Dachstuhl besitzt nämlich ein nettes Geheimnis. Man kann ihn an einer Stelle öffnen, groß wie ein Scheunentor, und mit einem eigens fest verankerten Kran Gegenstände ins Gebäude oder nach draußen hieven.
Die anatomischen Präparate und Totenmasken werden aber wohl den Weg über die Treppe genommen haben. Die wiegen ja nix.

Der Speicher von Musgrave Hall ist ein schier unendlicher Pool von Merkwürdigkeiten, Unerwartetem und doch recht nützlichem. Zumindest, wenn man vorhat ein paar Monster unter die Erde zu bringen.
In Zukunft wird er uns gewiss noch viele Male begegnen. Und, wer weiß, was wir dabei zutage fördern werden.


Yours truly
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"Während der Roman noch googelt und Bücher wälzt, um sicher zu sein, dass das was er vorhat auch sein kann, tritt der Heftroman einfach die Tür ein."

#InsideMusgrave